HALTUNG VOR HANDSCHRIFT

Die Architektur hat seit jeher eine besondere Stellung zwischen Kunst, Handwerk und Technik. Noch vor der Zeitenwende bezeichnete der römische Architekturtheoretiker Vitruv die Architektur als „Mutter aller Künste“. Der Renaissance-Künstler Michelangelo konnte nicht nur Marmor zum Leben erwecken und Gott an die Decke malen, sondern war auch einer der Baumeister des Petersdoms. Vom Mythos der Jahrtausende überladen, vererbt uns die Architektur neben dem Handwerkszeug auch ein Streben nach künstlerischer Erfüllung, Selbstverwirklichung und Alleinstellungsmerkmalen.

Unsere gebaute Umwelt besteht aber nicht nur aus herausragenden Sakralbauten, welche die Jahrhunderte überdauern, sondern größtenteils aus pragmatischen und funktionsorientierten Bauten. Spätestens seit der Industrialisierung existiert ein starker Fokus auf Funktionalität. Seitdem der Spruch „form follows function“ die Architektur prägt, müsste man meinen, die künstlerische Handschrift Einzelner sei von der Ingenieurskunst abgelöst worden und extravagante Wiedererkennungsmerkmale hätten ihren Platz verloren. Die megalomanischen Wolkenkratzer-Projekte und ‚Signature Buildings‘ vieler Star-Architekturbüros bezeugen das Gegenteil. Auch im Umgang mit dem Bestand, vor allem dem Abriss von nicht-geschütztem Bestand und anschließendem Neubau zeigt sich, dass die Handschrift häufig Vorrang vor dem Dagewesenen hat. In der Lehre und Erziehung wird häufig ein Rollenverständnis kommuniziert, welches Architektur als Autorenschaft begreift – das Werk als schöpferischer Akt. Stattdessen sollte die Rolle stärker als Vermittlungs- bzw. Moderationsaufgabe begriffen werden, bei welcher Inhalte verhandelt werden. Zeit für eine Lehrwende?

Aus Pragmatismus und Funktionalismus kann man einiges über Bescheidenheit lernen und daraus eine Haltung entwickeln – ein ehrliches Bekenntnis zu den Prinzipien der Nachhaltigkeit und einer Demut vor dem Bestand anstelle eines finanziellen und materiellen Mehraufwands als Beweis für individuelle künstlerische Genialität. Natürlich ist eine Handschrift nicht verkehrt, doch sollte sie niemals Vorrang vor der Haltung haben – auch Zurückhaltung kann zur Handschrift werden.

In Bezug auf das Bauen mit dem Bestand stellen sich die Fragen: Wann ist ein Umbau, eine Transformation oder eine Sanierung gelungen? Muss das sichtbar und vordergründig sein oder kann man durch Zurückhaltung zugunsten des Bestands die Handschrift vernachlässigen? Bei der Arbeit an einem herausragenden Gebäude wie der Neuen Nationalgalerie in Berlin fallen die Antworten auf diese Fragen sicherlich leichter als bei einem DDR-Plattenbau oder einer Bausünde der Postmoderne. Es gilt, eine Haltung zu entwickeln, die diesen Fragen angemessen begegnen kann. Haltung vor Handschrift!

Juli, 2024

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